Leistungsprinzip und Grundeinkommen
Über einen nur scheinbaren Widerspruch
von Thomas Kilian
In der Debatte über das bedingungslose Grundeinkommen drohen die Befürworter den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun. Während mittlerweile viele Befürwortergruppen mehr oder weniger gut durchgerechnete Modelle für ein bedingungsloses Grundeineinkommen haben, blocken viele Gegner nicht in erster Linie bei der Finanzierbarkeit der Maßnahme sondern in erster Linie bei ihrer Legitimität. Sie monieren eine Verletzung des Leistungsprinzips, wenn Personen ohne Ansehen ihrer Arbeitsbereitschaft Geld bekommen.
Das Leistungsprinzip ist eine heilige Kuh unserer Gesellschaft, gerade weil es etwas unbestimmtes hat. Es ist auch nicht das einzige Verteilungsprinzip, das die Menschen im Alltag anwenden. In der Partnerschaft führte das Leistungsprinzip etwa geradezu zur Prostitution, in der Kindererziehung zur geistlosen Dressur und in Freundschaften zur nackten Korruption. Auch auf der Ebene der großen gesellschaftlichen Systeme gilt nicht überall das Leistungsprinzip. Vor dem Recht gilt etwa das Gleichheitsprinzip, beim Arzt soll dieser die Bedürfnisse seines Patienten ermitteln, so dass zumindest der Idee nach das Bedürfnisprinzip gelten sollte. Eine Gesellschaft, die diese Vielfalt an Verteilungsprinzipien auf ein einziges zurückschrauben wollte, wäre eine arme, ja eine unmenschliche Gesellschaft. Dennoch darf man nicht eines dieser Prinzipien einfach über Bord werfen, sondern man muss sich Rechenschaft ablegen, wie eine bestimmte sozialpolitische Maßnahme, gerade wenn sie so weitreichend wie das bedingungslose Grundeinkommen ist, auf das Gleichgewicht der Verteilungsprinzipien wirkt. Eine Bagatellisierung des Leistungsprinzips, wie es gerade in Kreisen linker Grundeinkommensbefürworter üblich ist, ist deshalb nicht statthaft.
Auf der Ebene der Makrosysteme ist das Leistungsprinzip vor allem der Wirtschaft zugeordnet. Der Ideologie nach soll der Ertrag einer ökonomischen Tätigkeit proportional zur erbrachten Leistung sein. Es ist eine der Seltsamkeiten des Alltagsdiskurses, dass einerseits auf dem Leistungsprinzip bestanden wird, andererseits bestritten wird, dass es verwirklicht ist. Tatsächlich ist es alles andere als trivial, menschliche Leistung zu messen. Ein Extrem wäre nach dem Glukoseverbrauch des menschlichen Körper zu gehen, was eine verhältnismäßig geringe Leistungsdifferenzierung zur Folge hätte. Ein anderes Extrem wäre nach den Folgen des Handelns einer Person zu fragen. Da weiß allerdings jeder Soziologe, dass sich die Kräfte einer Person durch eine strategische Plazierung von Personen im Netzwerk der Beziehungen potenzieren können, ohne dass dies mit Fähigkeiten oder Anstrengung zu tun hat.
Üblicherweise wird für die Frage nach der Erbringung von ökonomischen Leistungen die Wirtschaftswissenschaft herangezogen. Deshalb will ich hier kurz darstellen, wie es ums Leistungsprinzip den bürgerlichen Wirtschaftswissenschaften und der marxistischen politischen Ökonomie zufolge bestellt ist. Es sei vorab gesagt, dass beide zu dem Ergebnis kommen, dass das Leistungsprinzip in der bürgerlichen Wirtschaftsweise schwer verletzt wird.
Für die bürgerliche Volkswirtschaftslehre gibt es drei Einkommensquellen: Die Arbeit, das Kapital und die Bodenrente. Diese werden mehr oder weniger postuliert und nicht weiter begründet. Zwar gab es schon vor dem 1. Weltkrieg Versuche den Kapitalzins aus den Modellvorstellungen zu begründen, aber diese gelten mangels Verständlichkeit auch für die Fachkollegen als gescheitert.
Der Preis von Arbeit, Kapital und Boden wird auf bestimmten Märkten festgelegt. Die Marktpreise werden als angemessen unterstellt. Aber selbst bei diesen zahlreichen und nicht fundierten optimistischen Annahmen kann das Modell nicht darüber hinwegtäuschen, dass bestenfalls die Arbeit leistungsgerecht bewertet sein kann, denn Kapital und Boden müssen nicht erarbeitet sein, sondern können genauso gut ererbt sein. Und damit sind sie in keiner Weise leistungsgerecht in der Bevölkerung verteilt. Diesen Verstoß gegen das Leistungsprinzip haben schon die liberalen, fortschrittlichen Ökonomen des 19. Jahrhunderts festgestellt und zu seiner Überwindung eine Erbschaftssteuer von 100 Prozent gefordert.
Die Diskussion, ob aus diesem Stock von Kapital und Boden ein Grundeinkommen finanzierbar wäre, soll hier nicht geführt werden. Es geht zunächst einmal darum zu zeigen, dass die Einkünfte im Kapitalismus zu einem beträchtlichen Teil aus leistungslosem Kapitaleinkommen bestehen ohne Anspruch auf irgendeine moralische Rechtfertigung durch ein anerkanntes Verteilungsprinzip, da Boden und Kapital weder nach individueller Leistung noch nach dem Gleichheitheitsprinzip oder nach Bedürfnissen verteilt sind.
Der Marxismus führt die Bildung von Werten ausschließlich auf die menschliche Arbeit zurück. Dabei rückt er die Lohnarbeit ins Zentrum der Überlegungen, die als Grundlage für den Profit und die Grundrente dient. Die Pointe dieser Analyse besteht darin, dass der Lohnarbeiter mehr produziert als er zum Leben braucht, aber nur dieses erhält. So entsteht ein Mehrwert, der dem Arbeitgeber und Kapitaleigentümer zufällt. Marx nennt dies Ausbeutung und es ist in zweifacher Hinsicht eine Verletzung des Leistungsprinzips. Erstens weil der Arbeiter nicht nach seiner Leistung bezahlt wird, sondern nach seinen Lebenshaltungskosten. Zweitens weil der Arbeiter nur einen Teil seines erarbeiteten Ertrags erhält.
Es fragt sich allerdings, ob in Staaten mit Sozialleistungen und gewerkschaftlicher Tarifpolitik der Lohn sich ausschließlich nach den Reproduktionskosten der Arbeitskraft bemisst. Hier könnte das Wertgesetz derart modifiziert sein, dass der Lohn etwas höher ist. Allerdings muss immer noch ein erheblicher Mehrwert erzielt werden, damit es sich lohnt, Arbeit als Lohnarbeit zu organisieren. So bleibt der Lohn trotzdem regelmäßig unter dem Wert der erarbeiteten Produkte, so dass das Leistungsprinzip verletzt ist.
Sowohl aus bürgerlicher Sicht als auch aus marxistischer Sicht ist die Behauptung, in der bürgerlichen Wirtschaft sei das Leistungsprinzip verwirklicht, Ideologie. Gleichwohl kann man diese Ideologie nicht einfach verwerfen, weil sie – so falsch sie sei – den Wunsch nach Leistungsgerechtigkeit ausdrücken. Deshalb ist es lohnenswert zu prüfen, welche Auswirkungen das bedingungslose Grundeinkommen auf die Verteilungsgerechtigkeit hat. Wie ich zu zeigen beabsichtige, besteht unter etwas idealisierten Annahmen Grund für die Behauptung, dass die Leistungs- und Verteilungsgerechtigkeit durch das bedingungslose Grundeinkommen zu- statt abnimmt.
Hier gilt es einem zweiten Problem der Debatte über das Grundeinkommen vor allem in der Linken zu begegnen. Denn in diesen Kreisen wird es vor allem als eine Art HartzIV de luxe gehandelt. Entscheidender als die Frage, wie sich die Lage derjenigen verändert, die nicht am Wirtschaftsleben teilnehmen können oder wollen, ist jedoch die Frage nach der Zukunft der Arbeit in den Zeiten eines bedingungslosen Grundeinkommens.
Prinzipiell sind für den Grundeinkommensbezieher drei Arten von Arbeit relevant. Zusätzliche Lohnarbeit, Eigenarbeit und Tätigkeiten auf eigene Rechnung. Die Auswirkungen des bedingungslosen Grundeinkommens auf die Lohnarbeit sind hoch umstritten. Während die einen meinen, das Grundeinkommen verbessere die Wettbewerbssituation der Lohnarbeiter und erhöhe damit ihren Verdienst, was marxistisch eine Reduktion des Mehrwertes zugunsten des Lohnes und damit eine Erhöhung der Leistungsgerechtigkeit bedeutet, meinen andere, die Arbeitgeber könnten den Lohn senken, weil ein guter Teil der Reproduktionskosten durch das Grundeinkommen bereits gedeckt sei. Allerdings widerspricht das der Beobachtung, dass Maßnahmen, die den Arbeitszwang verringern, geeignet sind, das Lohnniveau zu heben. Folgendes Gedankenexperiment mag das verdeutlichen: Wenn das Grundeinkommen die Höhe des Existenzminimums hat und sich der Lohn daran orientiert, müssten die Arbeitnehmer, wenn sie das Existenzminum akzeptierten, für gar nichts, also völlig umsonst, arbeiten. Das ist eine offensichtlich unsinnige Annahme. Vielmehr wird ohne Arbeitszwang die Attraktivität der Lohnarbeit im Vergleich zu anderen möglichen Aktivitäten abgewogen, wobei der Arbeitgeber als zentrales Argument für die Aufnahme einer Lohnarbeit die Bezahlung anzubieten hat. Zwar mögen die Löhne nominell sinken, aber die Gesamteinnahmen der Arbeitnehmer werden zumindest gegenüber dem in der Marxschen Ursprungstheorie festgehaltenen Fall steigen, so dass sich der Mehrwert, den sich die Arbeitgeber insgesamt aneignen können, sinkt. Wie es sich gegenüber dem heutigen Sozialstaat verhält, hängt von der Ausgestaltung des Grundeinkommens und der Stärke der Gewerkschaften ab.
In der bürgerlichen Volkswirtschaft hängt die Lohnentwicklung von der Angebotskurve der Lohnarbeit und der Nachfragekurve der Lohnarbeit ab. Es ist nicht plausibel, dass sich durch das Grundeinkommen die Nachfrage der Arbeitgeber nach Lohnarbeit wesentlich verändert. Dagegen ändern Maßnahmen, die den Arbeitszwang reduzieren, die Arbeitsangebotskurve – und zwar umso deutlicher, je leichter es ist, nicht zu arbeiten. Technisch sagt man, ihre Elastizität nimmt zu, d.h. bei einem gleichen Lohnrückgang geht das Angebot an Lohnarbeit deutlicher zurück als ohne Sozialleistungen oder auch als mit lediglich Lohnersatzleistungen bei Arbeitszwang. Zwar verschiebt sich die Arbeitsangebotskurve bei Beibehaltung ihrer hohen Elastizität möglicherweise etwas nach unten, so dass die Lohne etwas sinken, während die Gesamteinnahmen durch das Grundeinkommen steigen, aber dadurch geraten die Arbeitgeber letztlich in eine ungünstigere Wettbewerbsposition, was insgesamt zu einer Erhöhung der gesellschaftlichen Lohnquote führt und damit zu mehr Leistungsgerechtigkeit für den Faktor Arbeit.
Bei der Eigenarbeit schaffen die Arbeitenden Werte für sich selbst. Da hier keine Marktvermittlung stattfindet, ist es ins Belieben der Arbeitenden gestellt, ob sie den Ertrag untereinander nach dem Leistungsprinzip, dem Gleichheitsprinzip, dem Bedürfnisprinzip oder als Geschenke nach dem Freiwilligkeitsprinzip verteilen. Die Eigenarbeit verwirklicht das Maximum an Freiheit. Ihr Überwiegen wäre quasi eine kommunistische Utopie, ist aber auf absehbare Zeit sicher eher auf die Rolle einer Ergänzung angelegt. Auch die Eigenarbeit wurde in der Vergangenheit gefördert, z.B. durch die Anlage von Schrebergärten oder Werkstätten für Stadtbewohner.
Bereits parallel zum Zeitalter der Massenproduktion behielt der Kleinbetrieb dank Verkleinerung und Verbilligung von Maschinen und Werkzeugen eine erstaunliche Bedeutung. Diese Verallgmeinerung von Produktionsmitteln ermöglichte nicht nur ein hohes Niveau von Eigenarbeit und Nachbarschaftshilfe, sondern auch eine differenzierte Wirtschaftsstruktur. Der jüngste Schub in dieser Entwicklung sind sicher PC und Internet, die mit dazu beigetragen haben, dass in der westlichen Welt die Zahl der Selbstständigen wieder steigt. Viele dieser Selbstständigen sind Ein-Mann-Unternehmen. Auch allgemein gilt: Je größer die Zahl der Selbstständigen wird, ums so kleiner muss bei einer fixen Bevölkerung die durchschnittliche Betriebsgröße sein. Der quasi egalitäre Grenzfall ist, dass fast jedeR seinE eigeneR UnternehmerIn ist. Man könnte sich dann bestenfalls vorstellen, dass Lohnarbeiter zu Qualifizierungszwecken beschäftigt werden.
Zur Bewältigung komplexerer Aufgaben bietet sich die Zusammenarbeit von Selbstständigen in Netzwerken an, wie das im Computerbereich erfolgreich praktiziert wird. Aber auch der Zusammenschluss in Vereinen oder Genossenschaften bietet Alternativen der Kooperation zum kapitalistischen Großbetrieb.
Eine solche Entwicklung wird nicht nur gebremst durch technologische Faktoren, sondern auch durch die finanziellen Risiken der Selbstständigkeit. Für den Aufbau einer Unternehmung bietet das bedingungslose Grundeinkommen eine ideale Starthilfe, für den Fall des Scheiterns der Unternehmung schafft ein pfändungsfreies Grundeinkommen einen gewissen Schutz. So wird das Grundeinkommen die Tendenz zur Gründung von Kleinunternehmen unterstützen. Wenn man die Utopie einer egalitären Selbstständigenkultur zusätzlich fördern will, ist das problemlos möglich.
Fragt sich nun, wie sich die Betriebsform des Einzelselbstständigen auf das Leistungsprinzip auswirkt? Nach der bürgerlichen Volkswirtschaft ist der Einzelselbstständige Eigentümer seiner Produktionsmittel (bzw. seines produktiven Kapitals). Er erhält also nicht nur seinen Unternehmerlohn sondern auch einen Kapitalzins. Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene heißt das, dass durch Einzelselbstständigkeit das Kapital gleichmäßiger über die Bevölkerung verteilt wird und so eine vorsichtige Annäherung der Verteilung der Kapitalien an die Gleichheitsverteilung stattfinden, so Kapitalerträge und Erbschaften sich innerhalb der Bevölkerung langsam egalisieren.
Nach marxistischer Sicht kann der Einzelselbstständige den Mehrwert seiner Arbeit schlicht behalten, so dass er als einzige Betriebsform so etwas wie einen unverkürzten Arbeitslohn realisieren kann, so dass hier das Leistungsprinzip maximal realisiert ist.
Gefahr für eine leistungsgerechte Entlohnung droht dem Einzelselbstständigen nicht durch die Umverteilung im Betrieb, sondern in der Kooperation mit Kunden und anderen Betrieben. Hier drohen assymetrische Interdependenzen, wenn Abhängigkeiten von einzelnen Kunden oder Geschäftspartnern auftreten, die die Preise verzerren können. Hier gegenzusteuern ist einerseits eine Frage der selbstverantwortlichen Einzelselbständigen, die sich selbstverständlich zur Abwehr solcher Bedrohungen organisieren können, theoretisch auch in Gewerkschaften, als auch einer kluge Rahmenbedingungen setzenden Politik. Generell gilt schon aus mathematischen Gründen: je verallgemeinerter das Modell des Einzelselbstständigen, desto geringer die Gefahr assymetrischer Interdependenzen.
Die Änderung des Leitbildes der gesellschaftlichen Arbeit, die das bedingungslose Grundeinkommen unterstützt, trägt dazu bei, die Entwicklung des Leistungsprinzips in der Wirtschaft eher zu unterstützen als zu behindern. Der bescheidene Betrag des Grundeinkommens selbst fällt damit allerdings nicht ins Leistungsprinzip der Ökonomie sondern ins Gleichheitsprinzip von Politik und Recht. Sie korrigiert ebenso wie das Bedürfnisprinzip im Krankheitsfall oder in Lebenskrisen einen einseitigen Ökonomismus, der nicht geeignet ist höherrangige Gerechtigkeitsziele zu verwirklichen. Dagegen kann eine solche Kombination komplexe Gerechtigkeitskonzeptionen verwirklichen. (vgl. Kilian, Zukunftswerkstatt als Modell politischer Debatte, in: UTOPIEkreativ, Nr. 218, Dezember 2008). Doch selbst wenn man in verengtem Ökonomismus eine solche Demokratiedividente als eine Ergänzung zum Leistungsprinzip nicht für gerechtfertigt hält, muss man eingestehen, dass sie das Leistungsprinzip im Vergleich zu bestehenden Verletzungen des Leistungsprinzips geringfügiger verzerrt und diese Verzerrung durch die Chancen der Verbesserung der Verwirklichung des Leistungsprinzips gerechtfertigt sind.
Mit dieser Klarstellung kann man eine Front begleichen, reißt aber möglicherweise eine neue zu den Skeptikern im Bereich der Gewerkschaften auf. Gegenüber diesen widerspricht die Präferenz für den vernetzten Kleinbetrieb der gewerkschaftlichen Vorliebe für den Großbetrieb, wo sie ihre Mitglieder leichter organisieren kann. Noch bedeutender ist die gewerkschaftliche Vorstellung, man könne durch eine gesamtgesellschaftliche Planung Mitbestimmung ermöglichen, ohne unternehmerische Risiken einzugehen. Das funktioniert nur insofern, als man dann die Risiken kollektiviert – unter Umständen bis zum kollektiven Zusammenbruch. Hier fragt sich, ob sich individualisierte, selbst verantwortete Risiken in dezentralen Strukturen nicht leichter ertragen und vor allem leichter abfedern lassen.