Weddinger Musiktheater ATZE erneut vor dem Aus?

von Rainer Scholz

Mit rund 100.000 Zuschauern pro Jahr ist das ATZE Musiktheater in der Luxemburger Straße Deutschlands größtes Musiktheater für Kinder und Jugendliche. Es gibt 16 Produktionen pro Spielsaison und etwa 380 Vorstellungen im Großen Saal (480 Plätze) und in der Studiobühne (150 Plätze). Dazu kommen rund 50 Gastspiele in ganz Deutschland.
Zum Ensemble gehören 35 Schauspieler und 17 Musiker. Viele mussten bisher zusätzlich jobben, zum Beispiel für Werbeproduktionen, als Synchronsprecher oder Barkeeper in der Kneipe. Ein aktuelles Gerichtsurteil hat erreicht, dass ab der nächsten Spielzeit alle Schauspieler/MusikerInnen sozialversicherungspflichtig zu beschäftigen sind. Das Urteil brachte aber für das Theater auch Mehrkosten von ca. 240.000 Euro pro Jahr.

Offener Brief der Kinder- und Jugendtheater

Nach Bekanntwerden des Kulturetat-Entwurfs für den Doppelhaushalt 2016/17 waren die Berliner Kinder- und Jugendtheater entsetzt und reagierten mit einem Offenen Brief. Darin argumentierten sie, dass die vorgesehene Förderung die finanziellen Voraussetzungen für die Theaterbetriebe nicht erfüllen kann.

Die Reaktion des Berliner SPD/CDU-Senats war geradezu eine Ohrfeige statt einer Anerkennung der bisherigen allseits gewürdigten theaterpädagogischen Arbeit der Berliner Kinder- und Jugendtheater. Selbst die allernötigsten finanziellen Voraussetzungen wurden nicht berücksichtigt.

Lediglich jeweils 50.000 Euro für zwei andere Kinder- und Jugendtheater wurden zur Verfügung gestellt. Das sind nur 0,5 Prozent der zwanzig Millionen Euro, die im Kulturetat mehr aufgewandt werden sollen.

Und der bisherige Höhepunkt der strukturellen Kinderfeindlichkeit des Berliner Senats: Das ATZE Musiktheater bekommt keinen Cent mehr! Bei der Lesung im Hauptausschuss wurde die Position Kinder-und Jugendtheater zwar „angehalten“, was so viel bedeutet wie „über das Thema Kinder- und Jugendtheater muss nochmals beraten werden“, aber von Koalitionsmitgliedern war schon zu hören, dass mit einer verbesserten Förderung für ATZE nicht zu rechnen sei.

Erfolge von ATZE zählen nicht

Angesichts der Erfolge gerade des ATZE Musiktheaters sind diese Entscheidungen auf der kulturellen Ebene ein kaum glaubliches Armutszeugnis. Schließlich ist das Theater doch über Berlin hinaus bekannt – zum Beispiel für die theaterpädagogischen Projekte, für die interessanten neuen Theaterstücke und auch für die umfangreichen Begleitmaterialien bei den einzelnen Inszenierungen.

Für die Schauspieler, Musiker, Techniker, Dienstleistenden und nicht zuletzt für die Kinder und Jugendlichen selbst würde die Entscheidung des Kultursenats bedeuten, dass der ganzjährige Spielbetrieb eingestellt werden müsste und Aufführungen nur noch sporadisch stattfinden könnten. Alle Mitarbeiter des Theaters wurden extrem verunsichert. Die mangelnde Förderung steht im Widerspruch zu den enormen Erfolgen des ATZE-Theaters über die ganzen Jahre hinweg.

Die zwei Seelen in der Brust des Staatssekretärs Renner*

Erst im letzten Jahr hat das ATZE-Theater für das Stück „Spaghettihochzeit“ wieder den Berliner Kinder- und Jugendpreis „Ikarus“ vom Berliner Kultursenat verliehen bekommen. ATZE hat sich bereits seit Mitte der 90er Jahre als einzigartiges Musiktheater etabliert. Bekannte Stücke wie „Ronja Räubertochter“ oder „Bremer Stadtmusikanten“ stehen neben eigenen Stücken wie „Spaghettihochzeit“ und „Bach – das Leben eines Musikers“. Moderne Kinderbuch-Klassiker wie „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ (Andreas Steinhöfel) oder „Die besten Beerdigungen der Welt“ (Ulf Nilsson) sowie Märchen-Adaptionen wie „Frau Holle“ oder „Die kleine Meerjungfrau“ runden das Programm ab.

Der Kinder- und Jugendpreis „Ikarus“ wurde von dem für Kultur zuständigen Staatssekretär Tim Renner überreicht. Über die Unterfinanzierung des ATZE Kinder- und Jugendtheaters sieht er jedoch hinweg. Er behauptet sogar, davon noch nie gehört zu haben.

*Johann Wolfgang Goethe, Faust I: „Zwei Seelen wohnen – ach! – in meiner Brust, die eine will sich von der andern trennen…“